Die Uhr tickt lauter als sonst, der leichte Wind wird ab und zu zur stürmischen Brise und so langsam kehren die Lebensgeister zurück. Gestern war es soweit. Eine dringend nötige OP wurde durchgeführt, und erst am Tag danach – heute – merke ich, dass der Körper doch ziemlich mitgenommen ist. Gar nicht mal wegen des eigentlichen Eingriffes, nein, eher wegen der Vollnarkose. Ich finde es immer wieder bemerkenswert, wie genau und gezielt Anästhesisten Menschen aus dem Leben schießen können, und es schaffen, dass man trotzdem wieder putzmunter aufwacht. Danke dafür.
Jedenfalls wurde ein Polyp auf meinem rechten Stimmband entfernt, der in der Vergangenheit immer mal wieder für nervige Heiserkeit sorgte, bis hin zum kompletten Stimmverlust. Das ist als Sänger natürlich besonders doof, weil man dann nicht auf die Bühne kann – auch wenn man noch so gerne möchte. Jetzt hoffe ich, dass dieses Problem vorerst eliminiert wurde, und ich nach der Genesung mit gutem Gewissen weiter so oft und regelmäßig singen kann. Denn ich liebe meinen Job über alles und bin sehr dankbar, dass ich davon existieren kann, meine Leidenschaft auszuleben. Das ist nicht selbstverständlich.
Tja, und jetzt sitze ich hier an meinem Küchentisch und darf mindestens drei Tage gar nicht sprechen und nicht husten. Gar nicht so einfach. Fernsehgucker war ich noch nie, alle Bücher sind ausgelesen, Songs kann ich ohne Stimme einfach nicht schreiben und überhaupt bin ich noch nicht ganz wieder auf der Höhe. Liegt vielleicht auch an den nötigen Schmerzmitteln.
Nicht sprechen dürfen ist schon merkwürdig. Vor allen Dingen, wenn man so viel und gerne spricht wie ich. Die direkte Reaktion auf Aussagen des Gegenübers fällt einfach weg, man kann nicht dazwischen grätschen (außer durch wildes Rumgestikulieren mit Armen und Beinen, sieht aber doof aus), weder gehaltvoll zustimmen (ja gut, nicken, aber das ist ja nicht gehaltvoll) noch argumentreich verneinen. Gröbste Kommunikation geht, mehr nicht. Nicht mal fluchen beim Autofahren geht, oder spontanes Lachen in witzigen Situationen.
Aber alles Neue oder vermeintlich Schlechte, trägt ja auch etwas Besonderes in sich. Wenn man nicht miteinander sprechen kann, werden die Worte des Gegenübers viel schwerer und gewichtiger, sie gewinnen an Intensität, weil sie stehen bleiben und wirken können. Sie sind da und bleiben, weil sie nicht direkt mit den eigenen Worten erschlagen, dementiert oder bejaht werden. Wenn man spricht, hört man zu. Und das ist eine ganz spannende Erfahrung: Zuhören. Nicht bewerten, kategorisieren, einordnen oder ignorieren. Einfach zuhören. Mitnehmen. Drüber nachdenken. Sich selbst einen Reim darauf machen. Feststellen, dass Augen tatsächlich auch sprechen können. Und das nicht nur bei Liebespaaren. Auch bei fremden Menschen. Ich laufe beispielsweise mit Schildern durch die Gegend. Auf dem ersten steht „Ich darf wegen einer Operation nicht sprechen – sorry!“, auf dem nächsten „Zwei Roggenbrötchen bitte.“ Damit gehe ich zum Bäcker, und es funktioniert. Warum auch nicht? Wir sind Menschen – wir können miteinander umgehen. Und bisher stieß ich nur auf offene, hilfsbereite Ohren. Und wenn mal Missverständnisse passieren, so ist auch das menschlich. Fehler wollen schließlich auch gemacht werden, damit wir weiterkommen im Leben. Wie das Wort schon sagt: ohne Fehler fehlt eine Erfahrung, die das eigene Leben in irgendeiner Art und Weise bereichert.
Und wenn man nicht spricht, hat man mehr Zeit nachzudenken. Die Stunden, die sonst beim Telefonieren und in ewig langen Meetings draufgehen, hat man plötzlich für sich. Das ist sehr wertvoll. Wo steht man im Leben, was möchte man noch erreichen, hat man wirklich Ziele, oder ist was dran, dass der Weg das Ziel sei? Ist es nicht schade, wenn man Ziele hat, weil man nach der Erreichung des Zieles ja nichts mehr erreichen kann oder möchte? Wäre das nicht Lebenszeitverschwendung? Oder wäre es sogar besser, weil man gar nicht so lange in einer Gesellschaft leben möchte, wo ein wahnsinniger Milliardär US-Präsident wird und stets einen Code bei sich hat, mit dem er Atombomben zünden kann, die in Nullkommanix die Welt zerstören können? Eine Gesellschaft, die sich von Medien dermaßen manipulieren lässt und jeden Scheiß glaubt, den man bei Facebook und Co. liest? Lemminge, die dem Mainstream hinter- und damit ins eigene Verderben laufen? Hamsterkäufe? Ernsthaft? Eine Gesellschaft, in der allen Ernstes länger als eine Sekunde darüber nachgedacht wird, ob man Flüchtlinge, zum Teil Kinder, im Mittelmeer ertrinken lässt, weil man selbst nichts von seinem Wohlstand abdrücken möchte? Hallo? Wir sind Menschen. Wir sind alle die gleiche Sorte. Das sind nicht die und wir. Wir sind wir. Und keiner ist besser oder schlechter. Und auch die Oma beim Bäcker vor mir hat kein herablassendes Kopfschütteln verdient, weil sie nach Kleingeld kramt, weil „das auch Geld is“. Wer weiß denn, was die Dame in ihrem langen Leben schon alles gesehen hat, wer darf sich da Urteile machen? Hier würde vielleicht auch zuhören helfen. Und manch einem würde Kleingeld zählen sicherlich auch mal wieder helfen, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Nur große Scheine sind unsexy.
Jedenfalls steht für mich seit den Erfahrungen der letzten Tage und Stunden fest, dass an der folgenden Aussage mehr dran ist, als ich dachte. Reden ist silber. Schweigen ist gold.
Ich hoffe, dass ich Ende nächster Woche wieder stimmlich fit bin, damit ich auf die Bühne im Gaffel darf. Inklusive Karnevalsfreitag und letzter Woche (Grippe) war ich dann nämlich drei Mal in Folge nicht am Start. Und das gab es in der über zehnjährigen Erfolgsgeschichte der Gaffel-Freitagskonzerte noch nie. Dankenswerterweise springen am kommenden Freitag nochmal „Mätes & Bätes“ im Gaffel ein und werden für Mitsingstimmung sorgen.
Und ganz besonders freue ich mich zwei Tage danach auf zwei ganz andere, musikalische Abende mit dem Spezialprogramm „Ming Leeder“ im Rahmen der diesjährigen Wohnzimmerkonzerte in der Südstadt. Ein paar ganz neue Songs werden dabei sein, außerdem wieder mindestens ein Titel aus jedem bisher erschienenen Heuser-Album… man darf gespannt sein, ich bin es auch. Hier gibt es noch Karten:
https://brasserieallerkoloer.ticket.io/h98n23nr/
Soviel für heute – ich nutze die nächsten Tage zur Regenerierung, freue mich über Mails von euch, falls ihr weitergehende Gedanken zum Thema „zuhören“ oder „nicht sprechen“ habt, und hoffentlich sehen wir uns bald in neuer Frische wieder!
Üre
Björn