Möwen kreischen, Tauben gurren, Fensterläden klappern und werden quietschend geöffnet. Die Morgensonnenstrahlen glitzern im Wasser, man hört Radios laufen, Menschen telefonieren und Kinder schreien.
Venedig wird wach!
Diese faszinierende Stadt, die ich schon weit über vierzig Mal in meinem Leben besuchen durfte, habe ich auch diesmal wieder für eine kreative Auszeit ausgesucht. Engste Gassen, marode Fassaden, temperamentvolle Einheimische, und dann auf der anderen Seite wieder das endlos wirkende Meer. Diesen Gegensatz finde ich immer wieder aufs Neue spannend.
Hier verändert sich wirklich nicht viel. Geht ja auch gar nicht, denn die ganze Stadt steht quasi unter Denkmalschutz. Gebaut auf Stelzen, kann man hier so manches architektonische Meisterwerk betrachten. Deutsche Statiker hätten hier sicher auch ihre Freude, wenn sie denn erstmal aus dem Kopfschütteln, dass sowas überhaupt so lange stehen kann, herausgekommen sind.
Für mich ist Venedig in erster Linie Erinnerung. Erinnerung an viele Familienurlaube, die gleich nebenan auf dem Festland in Cavallino stattfanden, und bei denen mindestens einmal die Überfahrt nach Venedig Pflicht war. Immer wieder, wenn ich über den Markusplatz schlendere, ploppen so viele Bilder vor meinem inneren Auge auf, die mich an gute Zeiten erinnern. Wie ich – stolz wie Oskar – mit einer Kapitänsmütze auf dem Kopf an Papas Hand Tauben jagte, mich stark und tapfer fühlte, aber am Ende doch nie traute, sie zu füttern. Inzwischen ist das Füttern verboten. Besser so. Die Kapitänsmütze inklusive kleinem Björn in Italien, könnt ihr übrigens auch auf dem Cover meines Albums „Zick es Jlöck“ bewundern. Das Foto stammt aus 1986.
Aber Venedig bedeutet auch „Leben“ für mich. Abgesehen vom Gewusel an den völlig überlaufenen Touristenorten (die ich selbst meide, weil ich mich inzwischen Gott sei Dank echt gut auskenne hier), gibt es zauberhafte Gassen, kleine Cafés, wunderschöne Parks und begeisternde kleine Inseln drumherum, wo ich mich oft auf Parkbänke setzte, die besondere Luft tief einatme und den Gedanken freien Lauf lasse. Wir haben alle nur eine gewisse Zeit auf der Erde, irgendwann ist für jeden Schluss. Und glücklicherweise, weiß man vorher nie, wann es soweit ist. Die Venezianer wissen, dass bei allen globalen und vor allen Dingen klimatischen Entwicklungen auf der Welt, ihre Heimat irgendwann verschwinden und komplett unter Wasser sein wird. Aber ich habe den Eindruck, dass gerade dieses Wissen sie beflügelt noch intensiver und bewusster zu leben. Und davon möchte ich mir eine Scheibe abschneiden! Jeden Tag genießen, überall eher das Positive, als das Negative sehen, dankbar sein, nicht zuviel an morgen denken, fünfe gerade sein lassen, nicht perfekt sein müssen, atmen, mehr fühlen, weniger denken, sich treiben lassen.
Wenn ich hier bin, klappt das auch wirklich gut. Besonders wenn ich hier auf meiner wunderbaren, kleinen Dachterrasse sitze und beobachten und erleben kann, wie diese Stadt – in der es heute wieder heiß, laut und wuselig werden wird – langsam aus ihrem rustikalen Schönheitsschlaf erwacht. Ti amo, Venezia!
Wie immer nehme ich mir vor, eine gute Portion dieses besonderen, leidenschaftlichen Lebensgefühles mit nach Colonia zu nehmen. Bisher hat es immer geklappt, so dass ich bei den nächsten Shows wieder mit diesem zufriedenen und glücklichen Lächeln auf der Bühne stehen werde. So glücklich und zufrieden, wie ich jetzt hier in strahlend blauen Morgenhimmel flüstere „Buongiorno Italia“.
Bes die Daach, mer sinn uns in Colonia,
üre
Björn
Foto: Julia @serenissima_photo in Burano, 8. Juni 2022.